Rezension
Christian Booß: „Vom
Scheitern der kybernetischen Utopie. Die Entwicklung von Überwachung und
Informationsverarbeitung im MfS“, Vandenhoeck & Ruprecht,
Göttingen 2021, 400 Seiten, 30,-Euro, ISBN 978-3-525-35212-0
Von Wolfgang Schmidt
Das als Band 56 in der Reihe Analysen und Dokumente -
(Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
(BStU) – erschienene Buch vermittelt einen umfassenden Überblick über die
Entwicklung der Erfassung, Speicherung und Verarbeitung von Informationen,
wobei das MfS zuletzt „durchaus in der Moderne der Informationsverarbeitung“
angekommen sei. (Seite 268)
Es hat vor allem historischen Wert, da in den letzten
Jahrzehnten die elektronische Kommunikation und die Digitalisierung den Zugriff
auf Massendaten und deren automatisierte Auswertung in einem Maße erweitert und
ermöglicht haben, wie es zu DDR-Zeiten noch undenkbar war.
Berechtigt wirft der Autor die Frage auf, ob ein Zugewinn
an Informationen, die inflationäre Sammlung von Daten durch
Sicherheitsbehörden, zu mehr Sicherheit führt. Seinem Fazit am Ende des Buches,
dass ein Mehr an geheimdienstlichem Wissen allein keine Garantie für eine
größere Stabilität der Verhältnisse bietet, ist uneingeschränkt zuzustimmen.
Erstaunlich sachkundig und wissenschaftlich korrekt, unter
Vermeidung der üblichen dämonisierenden Verzerrungen, wird der Autor seinem
äußerst komplexen und selbst für Insider anspruchsvollem Thema gerecht. Er schildert
die sich entwickelnden Verfahren und Methoden, die eingesetzt wurden, um die
wachsende Informationsflut im MfS zu beherrschen und die Vielzahl von
Informationen nicht nur konkreten Personen und Sachverhalten zuzuordnen,
sondern auch inhaltlich zu vergleichen und zu verknüpfen.
Der Autor war langjährig in der BStU
tätig, deren Pressesprecher und Sprachrohr. Man darf deshalb nicht erwarten,
dass er die Diktion dieser Behörde grundsätzlich infrage stellt und so z.B. die
Legitimität der Arbeit des MfS anerkennt. Er vermeidet jegliche Hinweise auf
die realen Bedrohungen der staatlichen Sicherheit der DDR im Kalten Krieg, auf
die Dialektik von Angriff und Abwehr in der Arbeit des MfS. Die
weltanschauliche Basis der Angehörigen des MfS, ihr antifaschistisches
Grundverständnis und ihre sozialistischen Ideale bleiben außen vor. Damit
bleibt auch ausgeklammert, was wesentliche Seiten der Tätigkeit des MfS
bestimmt hat.
Hervorzuheben ist, dass Christian Booß
– gestützt auf seine wissenschaftlichen Untersuchungen und eigenständiges
Denken – gleich mehrere „heilige Kühe“ der Anti-MfS-Propaganda schlachtet. Er
bezweifelt, dass das Informationsgewinnungspotential und die
Informationsverarbeitung überhaupt in der Lage gewesen wären, eine dem MfS
unterstellte „flächendeckende Überwachung“ zu gewährleisten. (Seite 13) Das MfS
habe Schwerpunkte für seine Arbeit gesetzt, der Grad der Durchdringung mit IM
und Kontrolle sei in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sehr unterschiedlich
gewesen. Das MfS habe mit Ausnahmen (Grenzgebiete, Wohngebiete von
Mitarbeitern) die Wohngebiete nicht systematisch kontrolliert. Die Treffs in
konspirativen Wohnungen, hatten in der Regel nicht das Wohnumfeld zum Thema (S.
336 ff.)
Damit ist auch die Attraktion der „Gedenkstätte
Berlin-Hohenschönhausen“, wo mit einer begehbaren Berlin-Karte und
aufleuchtenden ca. 3.000 konspirativen Wohnungen die „flächendeckende
Überwachung“ demonstriert werden soll, ad absurdum geführt.
Zutreffend stellt der Autor fest, dass die Bekämpfung
„Andersdenkender“, der sog. Opposition (vom MfS im Juni 1989 auf ca. 2.500
Personen geschätzt), auch in Kultur und Kirchen keineswegs zu den größten
Arbeitsbereichen im MfS gehörte. Angesichts des immensen Aufwandes, den das MfS
in manchen Bereichen jenseits der Bekämpfung von „Andersdenkenden“ betrieb,
erscheine es sinnvoll, diese Tatsache stärker bei der Charakterisierung des MfS
zu berücksichtigen. (Seite 16/17) Am Beispiel der Kreisdienststelle Gransee
stellt er fest, dass die wichtigsten Einsatzfelder der IM im
Bereich Wirtschaft, in der Spionageabwehr, bei der Volkspolizei und im
Staatsapparat insgesamt lagen. Nur 9,4% der IM seien in systemkritischen
Überwachungsbereichen (Kirche, Jugend, politischer Untergrund, Kultur,
Umweltschutz) eingesetzt gewesen.
Im gemeinsamen Datenverbund der sozialistischen Länder
(SOUD) seien 74.884 Personen seitens des MfS erfasst worden, die meisten von
ihnen im Zusammenhang mit Spionage und Terrorbekämpfung, nur in geringer Zahl
im Zusammenhang mit „politisch-ideologischer Diversion“. (Seite 249)
Die Linien XVIII (Volkswirtschaft) und XIX (Verkehrswesen)
hätten 1989 mit 2.859 Mitarbeitern die HA II (Spionageabwehr) mit ihren 2.250
Mitarbeitern personell übertroffen. Die Linie XX (Überwachung von Staat, Kirche
und Opposition) habe nur über 1.420 Mitarbeiter verfügt. (S. 293)
Die Informationsbeschaffung des MfS habe sich, wie der
Autor richtig hervorhebt, auf eine deutlich breitere Quellenbasis gestützt, als
es die intensive Beschäftigung mit den IM in den letzten drei Jahrzehnten
suggeriere. 1988 habe nahezu jede zweite Inhaftierung durch das MfS auf
Hinweisen aus Ostblockstaaten oder anderer Organe der DDR beruht. Nur 19,8 %
der MfS-Untersuchungsvorgänge hätten auf konspirativ, also klassisch
geheimdienstlich ermittelten Erkenntnissen basiert. (S.308)
Besonders weit aus dem Fenster lehnt sich Christian Booß, wenn er schreibt: “Die DDR wird häufig als
Überwachungsstaat bezeichnet. Das MfS erscheint als Überwachungs- und
Unterdrückungsapparat, der als Geheimpolizei gegen die eigene Bevölkerung
gearbeitet hätte. Dem stehen gleich mehrere Befunde entgegen. Zum einen der
vergleichsweise geringe Umfang des Apparates in den Anfangsjahren. Sodann
richtete sich die massenhafte Überprüfung in späteren Jahren keineswegs
ausschließlich gegen feindliche Personen. Wegen des Präventionsgedankens kehrte sich die
Logik der Überwachung nahezu um.….rein statistisch dürfte tendenziell mehr
systemnahes Personal vom MfS überprüft worden sein als mehr oder minder aktive
Systemgegner (S. 334) oder „…Personen, auf die sich die SED-Führung
stützte, wurden genauer und nicht selten häufiger überprüft als unauffällige
Bürger. Die Dimensionen waren beachtlich (z.B. 1984 260.000 Kandidaten für
Kommunalwahlen, 50.000 Schöffen, 194.500 Geheimnisträger im Staatsapparat)“
(S. 305) Die massenhaften Überprüfungen von Personen mit privaten und
beruflichen Westkontakten seien zulasten gezielter, schwerpunktmäßig
ausgerichteter, qualitativ hochwertiger Informationsbeschaffungen und
Auswertungen gegangen. So gesehen habe die Entspannungspolitik das
Informationssystem der Staatssicherheit in einen tödlichen Wettstreit geführt.
(S. 342)
Am 17.Juni 2021 werden die MfS-Akten in das Bundesarchiv
überführt, bleiben aber weiter als dessen eigenständiger Bestandteil erhalten. Dass
es sich dabei ausschließlich oder mehrheitlich um sog. Opferakten handelt,
dürfte durch das Buch von Christan Booß hinreichend
widerlegt sein. Das Buch selbst ist als ein aussagekräftiges Sachbuch allen zu
empfehlen, die sich - aus welchen Gründen auch immer - mit der Geschichte des
MfS beschäftigen. Es schließt eine Lücke in der bisherigen Literatur über das
MfS und bietet zudem wichtige neue Denkansätze.
Wolfgang
Schmidt war langjährig als Auswerter und Analytiker im MfS tätig, zuletzt
Leiter der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Hauptabteilung XX.